In den Morgenstunden des 6.02.09 von 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr hatte sich eine Gruppe politischer Aktivisten für eine illegale Versammlung an der Goethe-Schule Wetzlar getroffen – Mit der Observation mehrerer Verdächtiger wurde begonnen.

So hätte das Stasi-Seminar an der Goetheschule Wetzlar seinen Platz in den Akten der Staatssicherheitsbehörde gefunden. Das Seminar ermöglichte es rund 40 interessierten Schülerinnen und Schülern, einen Blick hinter die Kulissen einer der komplexesten Überwachungsinstitutionen der Menschheitsgeschichte zu werfen. Durchgeführt wurde die Veranstaltung von einer Vertreterin der Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.

Nach einer kleinen zeitgeschichtlichen Einleitung mit den wichtigsten Ereignissen seit Kriegsende 1945 bis zum Mauerfall 1989 fanden sich die Schüler in Gruppen zusammen. Sie hatten die Möglichkeit anhand von Ausschnitten aus echten Stasi-Akten Lebensläufe von Observierten und Zwischenfälle im Gebiet des Todesstreifens zu rekonstruieren. Aufbereitet wurde das neu erlangte Wissen schließlich in Präsentationen vor den versammelten Seminarteilnehmern. So erfuhr man mehr über das zwiespältige Leben „Shenjas“ und vom raschen Ende eines Schülers, der versuchte, mit einem Freund den Todesstreifen zu passieren, und noch vor der eigentlichen Grenze ohne zu zögern erschossen wurde.

Der letzte Punkt des Seminars war das Gespräch mit einem Zeitzeugen. Utz Rachowski wuchs in der DDR auf und vermittelte sehr lebhaft seine Jugenderlebnisse und die tägliche Gegenwart des Systems. Schon in der neunten und zehnten Klasse mussten die Kinder am Schulfach Wehrpflichtunterricht teilnehmen. Das war praktisch eine militärische Grundausbildung, die sowohl militärisches Wissen als auch politische Ansichten vermittelte und damit die Jugendlichen bereits auf einen späteren Dienst bei der Nationalen Volksarmee vorbereitete. Mit 16 trat die Stasi in Rachowskis Leben ein: Er saß mit ein paar Freunden in einem Café im sächsischen Reichenbach. Einer von ihnen war ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, der ihn an seine Lehrer und die Staatssicherheit verriet. So wurde Kants Zitat "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", welches an seiner Zimmerwand prangte, zu seinem Verhängnis. Dies und das große Engagement in einer ortsansässigen Kirchengemeinde hatten ausgereicht, um den 16jährigen der "staatsfeindlichen Gruppenbildung" und der "staatsfeindlichen Hetze" zu beschuldigen. Ein Mitarbeiter des Ministeriums holte Rachowski vom Schulhof weg zum Verhör ins Direktorenzimmer. Danach wurde er allerdings wieder freigelassen. Von nun an wurde Rachowskis Leben in Schrift, Bild und Ton aufgezeichnet. Doch genau durch dieses Erlebnis wurde sein Interesse für die Stasi geweckt. Nach der Gründung eines Philosophieclubs wurde er von der Schule geworfen. 1979 wurde er erneut von der Stasi aufgesucht und zu 27 Monaten Haft verurteilt. Seine „Tat“ war die Vorlesung eigens geschriebener Gedichte und die Verbreitung der Werke von Jürgen Fuchs, Reiner Kunze und Wolf Biermann. Über Beziehungen in den Westen wurde er von Reiner Kunze und amnesty international freigekauft und in die BRD entlassen. Er studierte anschließend Kunstgeschichte und Philosophie an der Freien Universität in West-Berlin. Er sei auch dem Spitzel nicht böse, denn er habe nicht wirklich gewusst, welchen Schaden er anrichte. Die wahren Täter hätten im Ministerium gesessen, so Rachowski. Rückblickend betrachtet er seine aufregende Jugend mit Humor: Manche Aufnahmen die er aus seiner Stasi-Akte entnahm, sagte er, seien wirklich schöne Erinnerungsfotos von seinem Freundeskreis.