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Vortrag an der Wetzlarer Goetheschule

„Fluchten im DDR-Sport“ – so lautete der Titel einer Veranstaltung, die zum Jahresende an der Wetzlarer Goetheschule stattfand. Hierzu waren Dr. René Wiese, Vorsitzender des Zentrums für Deutsche Sportgeschichte, sowie der ehemalige DDR-Spitzenturner Wolfgang Thüne an Wetzlars Oberstufengymnasium gekommen. Unterstützt wurde die Veranstaltung von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.


 

Wiese, dessen Forschungsschwerpunkt das Leistungssportsystem der DDR sowie die deutsch-deutschen Beziehungen im Sport sind, berichtete den anwesenden Besuchern zunächst von verschiedenen DDR-Sportlern und deren Flucht in den Westen. So erfuhren die Gäste von Leichtathlet Jürgen May, der 1967 im Kotflügel eines Cadillacs versteckt die Grenze überquerte, oder Langstreckenschwimmer Axel Mitbauer, der im Jahr 1969 nachts 20 Kilometer weit durch die Ostsee schwamm, bevor er auf einer Boje in der Lübecker Bucht von einer westdeutschen Fähre aufgenommen wurde.

Wiese erklärte auch den Umgang mit den Geflüchteten in der DDR und demonstrierte anhand von durch den Staat retuschierten Fotos, wie versucht wurde, jegliche Erinnerung an diese Sportler auszulöschen. Auch die Konsequenzen für in der DDR verbliebene Mitwisser beleuchtete er und erzählte etwa von lebenslangen Spielverboten für Mannschaftskollegen geflüchteter Fußballer.

In einem Zeitzeugengespräch mit dem ehemaligen Kunstturner Wolfgang Thüne erfuhren die Gäste dann aus erster Hand, was Menschen zur Flucht aus der DDR bewegte, wie sie diese umsetzten und wie sich das Erlebte auf sie selbst aber auch ihre Familie auswirkte. Thüne, der zweite und dritte Plätze bei Weltmeisterschaften belegte, flüchtete 1975 in die BRD. Im Gespräch mit Wiese erläuterte er die Hintergründe, die mit der Niederlage gegen BRD-Turner Eberhard Gienger bei der Weltmeisterschaft 1974 begannen. Anders als eine Niederlage gegen einen russischen Turner sei die Platzierung hinter einem Athleten der BRD ein Problem für die Staatsführung gewesen. In Vorbereitung einer Revanche bei der Europameisterschaft 1975 habe das Regime von Thüne daher die Aufnahme immer schwererer – und somit auch gefährlicherer – Elemente in sein Reck-Programm gefordert. Nachdem ihn beim Training gleich zweimal nur das Eingreifen seines Trainers vor einem Genickbruch bewahrt habe, sei er nicht mehr bereit gewesen, dieses Risiko einzugehen, erzählte Thüne. Eine für die DDR-Führung nicht akzeptable Entscheidung, die daraufhin seine Turnerkarriere beenden und ihn zum Panzerfahrer ausbilden wollte.

So reifte in Thüne der Plan, bei der EM 1975 in Bern einen Fluchtversuch in die BRD zu unternehmen.

Thüne schilderte den gespannt lauschenden Zuhörern, wie dieser letztlich erfolgreich verlief, nicht zuletzt durch die tatkräftige Unterstützung von Eberhard Gienger selbst. Der brachte Thüne gemeinsam mit seiner Freundin und einem westdeutschen Kampfrichter eigenhändig über die Grenze nach Freiburg.

Neben den Umständen seiner Flucht gab Thüne aber auch Einblicke in das Leistungssport-System der DDR, erzählte von Trainingsmethoden und genau geplanten Lebenswegen, und davon, wie sich mangelnde Systemkonformität auf Bildungs- und Karrierechancen auswirkte. Das Thema Doping kam dabei ebenso zur Sprache wie die Tatsache, dass das Ministerium für Staatssicherheit von Thünes jüngerem Bruder verlangte, ihn nach seiner Flucht auszuspitzeln.

Die anwesenden Gäste, darunter viele Lehrer sowie Schüler der Sport- und Geschichtskurse der Goetheschule, erlebten so einen hochinteressanten Nachmittag und man darf schon jetzt gespannt sein, mit welcher Veranstaltung die Vortragsreihe an Wetzlars Oberstufengymnasium fortgesetzt wird.

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