In Sachen Amoklauf an Schulen liegt Deutschland weltweit auf Platz zwei. Mit dieser Tatsache sahen sich knapp 50 Gäste des Vortrags „Amoklagen und Krisenmanagement an Schulen“ am vergangenen Mittwoch konfrontiert. Auf Einladung der Schulleitung war Referentin Karoline Roshdi vom Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt in der Aula der Wetzlarer Goetheschule zu Gast. Die Kriminalpsychologin berichtete von ihrer Arbeit und von den Möglichkeiten die Gefahr von Amokläufen zu erkennen.
Nicht ganz ein Jahr sei es her, sagte Schulleiter Dieter Grebe, dass eine angebliche Amoklauf-Drohung an der Goetheschule für Wirbel sorgte. Die Erfahrungen mit der sich entwickelnden Dynamik und den irrationalen Ängsten veranlassten die Schulleitung, Roshdi einzuladen.
Die Mitverfasserin einer Studie zu Amokläufen an Schulen, deren Erstellung 2002 nach den Vorfällen in Erfurt begann, räumte zunächst mit gängigen Mythen über Täter gründlich auf: Amokläufer sind verrückt, stammen aus kaputten Elternhäusern und sind Einzelgänger – all dies seien klischeehafte Vorstellungen, die sich in der Realität nicht bestätigen lassen. Ebenso falsch sei die Annahme, dass sich potentielle Amokläufer immer mit sogenannten „Killer-Spielen“ beschäftigten. Dies treffe nur in etwa 50 Prozent der von Roshdi untersuchten Fälle zu. Dennoch lasse sich trotz großer Unterschiede ein gewisses Täterprofil feststellen. Aufgewachsen seien die Täter meist in unauffälligen Elternhäusern, sie verfügten in der Regel über mittlere bis hohe Bildung, oft hätten sie erfolgreichere Geschwister. Die wenigsten seien zuvor als gewalttätig aufgefallen, eine Faszination für Waffen sei jedoch meist zu beobachten.
Roshdi erwähnte, dass Deutschland mit den Vorfällen in Erfurt und Winnenden (2009) die gemessen an den Opferzahlen weltweit schwersten Fälle von Amokläufen an Schulen aufzuweisen habe. Auch die weltweit seit 1974 ständig zunehmende Zahl solcher Vorfälle führe dazu, dass das Thema für Schulen zunehmend an Bedeutung gewinne. Die positive Erkenntnis ihrer Studie sei, dass entgegen landläufiger Meinung ein Amoklauf nichts Spontanes sei, sondern sich stets ankündige. Bei allen elf Fällen, die sich seit 1999 in Deutschland ereigneten, habe es Ankündigungen und Zeichen gegeben.
Dies eröffne die Möglichkeit, Bedrohung zu erkennen und präventiv tätig zu werden. „Unser Institut versucht den Weg zur Gewalt nachzuvollziehen um zu verstehen, was da passiert“, erläuterte Roshdi. So gab es in allen Fällen Hinweise auf Opfer und verwendete Waffen. Auch das sogenannte „Leaking“ (Durchsickern lassen) der Tatabsicht sei ein bekanntes Phänomen, ebenso wie Probehandlung, bei denen Täter bereits zuvor beispielsweise eine Waffe mit in die Schule bringen.
„Ein Warnsignal alleine macht noch keinen Täter“, machte die Kriminalpsychologin aber deutlich. Bei echten Tätern gebe es verschiedene Hinweise: In der Schule, im Freundeskreis, im Elternhaus. Gerade diese Puzzleteile zusammenzusetzen sei Aufgabe der Prävention – zugleich aber auch die Schwierigkeit. Insbesondere sei hier schul- und behördenübergreifende Zusammenarbeit wichtig. Für Schüler, die mögliche Warnsignale wahrnehmen, sei das Problem oft, dass sie keine Ansprechpartner an Schulen hätten, sagte die Referentin und plädierte deshalb für die Einrichtung von Krisenteams an Schulen. Schulleiter Grebe informierte darüber, dass ein solches Team an der Goetheschule bereits vor einigen Monaten eingerichtet wurde. Und noch etwas verdeutlichte Roshdi. Sei eine Bedrohungslage erkannt, so fange die Arbeit erst an: „Prävention muss Alternativen bieten.“ Die Täter seien angesichts ihrer Situation verzweifelt, Gewalt für sie die Lösung einer Krise. Deshalb müsse man ihnen die Lust am Leben zurückgeben. Hinweise seien mitunter auch als Hilferufe zu verstehen. Besonders eindringlich verdeutlichte dies das abschließende Zitat eines Amokläufers. Auf die Frage „Und was, wenn der Direktor sie gefragt hätte“ antwortete er: „Ich hätte ihm alles erzählt.“